- Kulturkampf und Sozialenzyklika: Kirche und Welt
- Kulturkampf und Sozialenzyklika: Kirche und WeltDie politische Situation im deutschsprachigen Raum unmittelbar nach dem ersten Vatikanischen Konzil war von eben jenen Spannungen gekennzeichnet, die bereits vor dem Konzil die Bevölkerung in zwei Lager gespalten hatten. Durch die Exkommunikation einer Vielzahl von Altkatholiken und ihrer Sympathisanten ergab sich allerdings auch für den Staat eine prekäre Situation, die schließlich in den »Kulturkampf« zwischen Bismarck und Pius IX. mündete. Auslöser des Konflikts war die Weigerung der preußischen Regierung, Religionslehrer, Priester und Professoren, die in Diensten des Staates standen, aufgrund eines innerkirchlichen Lehrzuchtverfahrens zu entlassen. Schwerer dürfte jedoch die Gründung der Zentrumspartei als katholischer Interessenvertretung gerade in dem Jahr gewogen haben, in dem sich das protestantische Kaiserreich konstituiert hatte.Offenbar aus einem erheblichen Misstrauen gegenüber dieser Verbindung zwischen Papsttum und politischem Katholizismus im eigenen Land erließ man 1871 auf Betreiben der bayerischen Regierung den »Kanzelparagraphen«, der den Missbrauch der Kanzel, bald auch die Verbreitung politischer Schriften durch Geistliche, unter Strafe stellte. Im darauf folgenden Jahr verbot ein mit viel Beifall aufgenommenes »Jesuitengesetz« Mitgliedern des Ordens den Aufenthalt im Reich, was wenig später auf alle Orden und Kongregationen erweitert wurde. In Preußen, wo 1872 die staatliche Schulaufsicht verschärft worden war, kam es 1873 zu den »Maigesetzen«, in denen die Säkularisierung der Schulen in die Wege geleitet wurde: Voraussetzung für die Anstellung von Theologen sollte in Zukunft die deutsche Staatsbürgerschaft, die wissenschaftliche Ausbildung an einer staatlichen Einrichtung und das Ablegen eines Kulturexamens in den Fächern Philosophie, Geschichte und Literatur bilden. Als sich die kirchlichen Lehranstalten diesen Maßnahmen widersetzten und den staatlichen Behörden keinen Zutritt gewährten, wurden die Priesterseminare kurzerhand geschlossen.Nachdem die unabhängige kirchliche Gerichtsbarkeit weitgehend eingeschränkt, der Taufzwang abgeschafft, Kirchenaustritt und Eheschließung zivilrechtlich geregelt worden waren und Verstöße gegen die Kulturkampf-Gesetzgebung mit der Ausweisung bestraft wurden, eskalierte der Streit weiter. Auf Bismarck wurde ein Attentat verübt, ein zweites geplantes wurde schon früh vereitelt. Im Februar 1875 erklärte der Papst in einer Enzyklika alle diese staatlichen Gesetze für ungültig und bedrohte alle mit der Exkommunikation, die sich ihnen dennoch unterwarfen. Daraufhin stellte das »Brotkorbgesetz« alle finanziellen Zuwendungen des Staates an die Bistümer ein, die sich den staatlichen Anweisungen widersetzten. Die Konfrontation zwischen Kirche und Staat hatte damit endgültig ihren Gipfel erreicht, beide Kontrahenten hatten alle Möglichkeiten des Kampfes ausgereizt.In den folgenden Jahren blieb die Lage im Wesentlichen unverändert. Der Kulturkampf hatte in unterschiedlicher Intensität auf Bayern, Baden und Hessen-Darmstadt übergegriffen; die restriktive Gesetzgebung traf neben der katholischen auch die evangelische Kirche schwer. Die Gemeinden verwaisten zusehends, fast 1000 Pfarrstellen und die Hälfte der Bischofssitze waren 1878 unbesetzt. Die verbliebenen Bischöfe leisteten passiven Widerstand, obwohl die Kirchenorganisation beinahe zusammengebrochen war.In dieser Situation verstarb Pius IX. Sein Nachfolger Leo XIII. ließ Bereitschaft zu einer diplomatischen Lösung erkennen, die Bismarck sehr gelegen kam, war doch die Zentrumspartei aus den Querelen eher gestärkt hervorgegangen. Während Personenstands-, Kirchenaustrittsgesetze und Kanzelparagraph teilweise bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Bestand hatten, wurden die übrigen Kulturkampfgesetze aufgehoben. Im gleichen Jahr verlieh der Papst Bismarck den. Christusorden. Der Staat hatte sich zwar eine dauerhafte Kirchenhoheit sichern können, musste jedoch auf die erstrebte Einflussnahme auf Lehrerbildung und christliche Parteien verzichten. Immerhin hatten Kirche und Staat längerfristig einen tragfähigen Kompromiss gefunden.Nicht nur durch die Beilegung des Kulturkampfes, auch in seinem Aufgreifen der sozialen Frage stellte Leo XIII. unter Beweis, dass er die Zeichen der Zeit erkannt hatte. 1891 erschien seine Enzyklika »Rerum novarum« (= nach Neuerungen [begierig]), die eine neue Phase in der kirchlichen Sozialethik einleitete. Sie hat ihm großes Ansehen und den Titel »Arbeiterpapst« eingetragen, erstaunlicherweise wurde sie jedoch nicht nur von den Sozialisten abgelehnt, sondern teilweise auch von Konservativen und mäßig Liberalen als der Wirtschaft eher abträglich kritisiert.Zu Beginn seiner Enzyklika verteidigte der Papst gegen den Sozialismus, den er schon 1878 in seiner Antrittsenzyklika als »Sekte« und »todbringende Seuche« qualifiziert hatte, das Privateigentum; ohne Privateigentum bestehe für die verarmten Industriearbeiter keine Ausgangsbasis, ihre Lage aus eigenen Kräften zu verbessern. Ebenso erteilte er der Gleichheit der Individuen eine Absage: Ungleichheit in materieller und intellektueller Hinsicht sei naturgegeben und eine unverzichtbare Triebfeder menschlichen Handelns. Ein Leben »in satter Ruhe und stetem Genuss« sei dem Menschen nicht gegeben. Gerechter Lohn, der eine Familie ernähren kann, und Sozialpflichtigkeit des Eigentums schienen ihm die geeigneten Mittel, die sozialen Probleme zu überwinden. Die Aufgabe des Staates liege darin, einerseits für angemessene Tarifabschlüsse zu sorgen und andererseits Unruhen, Eigentumsübergriffen oder Streiks seitens der Arbeiterschaft entgegenzuwirken. Rücksichten auf Frauen und Kinder sowie die Forderung nach Sonntagsheiligung und Selbsthilfe der Arbeiter untereinander vervollständigten sein Programm.Bei der Begründung seiner Ansichten bediente sich Leo XIII. des von den Jesuiten erarbeiteten Neuthomismus. Immer wieder griff er auf naturrechtliche Argumentationsmuster in der Tradition des Thomas von Aquino zurück, der so zum Vorbild wurde, an dem sich die Ausbildung der Theologen zu orientieren hatte. Umfangreiche Studien zur Scholastik wurden eingeleitet, der Neuthomismus wurde zur kirchlichen Philosophie par excellence.Dr. Ulrich RudnickGeschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Neuausgabe Graz u. a. 1995.Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, herausgegeben von Jean-Marie Mayeur u. a. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Norbert Brox. Band 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830—1914). Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1997.Grane, Leif: Die Kirche im 19. Jahrhundert. Europäische Perspektiven. Aus dem Dänischen. Göttingen 1987.Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, herausgegeben von Carl Andresen und Adolf Martin Ritter. Band 3: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Ökumenizität. Studienausgabe Göttingen 21998.Maron, Gottfried: Die römisch-katholische Kirche von 1870 bis 1970. Göttingen 1972.Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen 61996.
Universal-Lexikon. 2012.